1. Die Wiederbelebung der Phraseologie*
Was genau das Revival der Phraseologie in den 2000er Jahren ausgelöst hat, lässt sich nicht so einfach beantworten. Vermutlich waren es mehrere konvergente Einflüsse, zu denen empirische und sprachtheoretische Neuerungen gleichermaßen gezählt haben wie in jüngster Zeit (erneut) die Phraseodidaktik.
Ersteres, weil die Entwicklung digitaler Korpora und der Korpuslinguistik an sich in diese Zeit fällt Bubenhofer 2009, (Reppen/Biber 2012, Crocco 2015) und phraseologische Studien seither zunehmend auf korpuslinguistische Methoden zurückgreifen1
Der zweite Faktor, der zu einem „Re-Boom“ der Phraseologie geführt hat, ist der Auseinandersetzung mit der Konstruktionsgrammatik geschuldet. Seitdem sich Konstruktionsgrammatik und Phraseologie gegenseitig wahrgenommen und durchaus auch befruchtet haben,2 ist nicht nur das Interesse an Idiosynkrasie und Idiomatik in der Sprache neu belebt (vgl. González Rey 2015) und das Bewusstsein für „Festigkeit“ geschärft worden (vgl. Stumpf 2015, Steyer 2018). Auch das konstruktionsgrammatische Postulat einer fließenden Grenze zwischen Syntax und Lexikon wird seit einigen Jahren, insbesondere mit Blick auf „schematische“ (oder „syntaktische“) Phraseme, verstärkt in Augenschein genommen3, vor allem auch unter dem Aspekt der Produktivität phraseologischer Patterns (vgl. Barðdal 2008, Kay 2013, Stumpf 2015, Mollica/Schafroth 2018, Ziem 2018b).
Die dritte Komponente, die die Phraseologie auch gegenwärtig beflügelt, sind didaktische Fragestellungen. Obwohl auch Phraseodidaktik keineswegs neu ist (vgl. Kühn 1992), ist sie nicht nur immer schon ein linguistisch-didaktischer Dauerbrenner gewesen (vgl. Hallsteinsdóttir 2001, Ettinger 2007), sondern nach wie vor hochaktuell (vgl. De Knop/Gilquin 2016, Meisnitzer 2016, Herbst 2017, Ettinger 2019).
Man kann also nicht sagen, dass das Thema Phraseologie im Jahre 2019 marginal oder veraltet wäre. Ein Grund mehr, als Romanist und Linguist auch forschungspraktisch aktiv zu werden.
Im Folgenden sollen also die Vorzüge eines phraseologischen Forschungsprojekts resümiert, dabei aber auch theoretische und methodologische Probleme nicht verschwiegen werden. Das Projekt, um das es geht, wird an der Universität Düsseldorf durchgeführt und wird seit Juli 2018 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.4. Der Anspruch ist keineswegs gering, nämlich eine webbasierte Plattform zu 600 italienischen verbalen Idiomen (vulgo Redewendungen) zu schaffen. Das Projekt GEPHRI (Gebrauchsbasierte Phraseologie des Italienischen) ist strikt korpusbasiert, d.h. alle Erkenntnisse zu Morphologie und Syntax, Semantik und Pragmatik werden aus umfangreichen Korpusanalysen und nicht aus Wörterbüchern erschlossen, auch wenn deren Bedeutungsparaphrasen und Äquivalente mit in die Datenbank aufgenommen werden5 (vgl. Imperiale/Schafroth 2016, Schafroth/Imperiale 2019). Dies geschieht nicht nur, um der Lexikografie ihren Tribut zu zollen, sondern auch, um zu zeigen, welche wissenswerten oder „verstehensrelevanten“6 Aspekte die Definitions- und Äquivalenzwörterbücher nicht berücksichtigen.7
Das verstehensrelevante Wissen eines Phrasems unterscheidet sich wesensmäßig nicht von dem eines Lexems und umfasst neben Weltwissen und situationstypischem und situationsspezifischem (aktuell-perzeptivem) Wissen auch sprachliches Wissen im engeren Sinne („Verwendungs- und Strukturierungsregeln der Textelemente“ (Busse 1994, 228)) ebenso wie Erfahrungswissen (z. B. über den Gesprächspartner, über interpersonelle Relationen oder über für die Äußerung relevante ideologische Kontexte) und sprachliches Wissen im weiteren Sinne, also „Wissen über gesellschaftliche Handlungs- und Interaktionsformen, die kommunikativ relevant sind“ (ib.), z. B. Sprechakttypen, Kommunikationsmaximen. Mit anderen Worten, wenn A zu B sagt „Da hast Du aber den Vogel abgeschossen“ wird – je nach Situation – der Wissensrahmen LOB oder KRITIK evoziert, der neben den erwartbaren Standardwerten (z. B. bei Lob die Präsupposition, dass die von B vollzogene Handlung oder das von B Gesagte bei A – und nicht nur bei ihm – Gefallen gefunden hat) auch die konkreten Füllwerte, die sich auf die konkrete Situation bzw. auf den konkreten Sachverhalt beziehen, enthält (vgl. Barsalou 1992, 158f., Ziem 2008, 13, 266ff.).
Allein die Tatsache, dass dieses Phrasem positiv, aber auch, im ironischen Sinne, dezidiert negativ verwendet werden kann, ist Bestandteil des verstehensrelevanten sprachlichen Wissens, zu dem natürlich auch das Wissen über das Register (laut Duden 11 umgangssprachlich) und damit über das persönliche Verhältnis von A und B gehört.
Konstruktionsgrammatisch gesehen lässt sich dieses Wissen mit Croft 2001 mit folgender Graphik zusammenfassen:
Ziel von GEPHRI ist es, Phraseme, die auch als Konstruktionen im Sinne Goldbergs (2003,8 20069) gesehen werden können (vgl. Dobrovol’skij 2018), ganzheitlich, d. h. auf allen Ebenen ihrer Form- und ihrer Inhaltsseite zu beschreiben. Damit wird
- sprachliches Wissen als emergentes Produkt des Sprachgebrauchs verstanden, weshalb alle Analysen konsequent korpusbasiert sind,
- die pragmatische Dimension von Phrasemen fokussiert (vgl. bereits Fillmore u.a. 1988), und
- Variation auf allen formalen und inhaltlichen Ebenen erfasst, wobei insbesondere auf die Beschreibung neu entstandener types und auf häufige oder saliente tokens geachtet wird.
Was genau in diesem Projekt geschieht, wird in Abschnitt 5 ausgeführt werden. Zunächst jedoch kurz zum aktuellen Stand der Phraseo- und Lexikografie.
2. Die ausgetretenen Pfade
Es mag ein bisschen deplatziert anmuten, wenn man mit Wörterbüchern, seien sie einsprachiger, zweisprachiger oder phraseologischer Natur, hinsichtlich ihrer lexikografischen Behandlung von Phrasemen allzu hart ins Gericht geht. Zumindest für Muttersprachler sei es doch nicht nötig, so wird häufig argumentiert, ein Idiom oder ein Sprichwort lang und breit zu erklären. Aber dieses Argument träfe auch für jedes x-beliebige Lexem zu, wie z. B. Walnuss, Ellbogen, Kurbel oder Sehnsucht. Und diese finden sich doch auch als semantisch differenziert beschriebene bzw. mit Äquivalenten versehene Lemmata (samt Einzelbedeutungen) in den Wörterbüchern wieder. Darüber hinaus werden für Muttersprachler konzipierte Wörterbücher auch von Fremdsprachenlernern verwendet, abgesehen davon, dass es inzwischen reihenweise (meist einsprachige) learner’s dictionaries für viele Sprachen – außer für das Italienische (vgl. Schafroth 2012) – gibt. Auch der Faktor „Platz“ dürfte in digitalen Werken, insbesondere in neudigitalisierten (von Anfang digital konzipierten), keine Rolle mehr spielen. Dennoch wird gerade der phraseologische Teil in Mikrostrukturen einsprachiger oder in den Artikeln zweisprachiger Wörterbücher besonders stiefmütterlich behandelt. Sehen wir uns ein paar Beispiele an:
(1) sich an die eigene Nase fassen (ugs.): sich um die eigenen Fehler und Schwächen kümmern (Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache)
Was in dieser Bedeutungsparaphrase völlig untergeht, ist der geradezu typische deontische Gebrauch des Idioms mit sollen oder müssen: z. B. „Jeder solle sich an seine eigene Nase fassen“, „Wir müssen uns an unsere eigene Nase fassen“, oft auch mit dem Sprechakt des Vorwurfs oder der Kritik verbunden: „Also bitte mal an die eigene Nase fassen und überlegen, wer hier was kaputt gemacht hat“ (deTenTen13). Ganz abgesehen von der häufigen unpersönlichen Infinitivkonstruktion und dem ebenso typischen Anschluss mit der Konjunktion und und dem Verb überlegen (bzw. Wortfeldnachbarn wie überdenken, nachdenken, hinterfragen). Auch dass das Prädikat des Idioms häufig durch Adverbien wie zuerst, zuallererst, erst, erstmal modifiziert und das satzwertig verwendete Idiom durch einen temporalen Nebensatz, der bei genauer Betrachtung hohes illokutives Potenzial enthält, ergänzt wird, gehört zu den Bestandteilen des phraseologischen Wissens: „Man sollte sich erst an die eigene Nase fassen, bevor man andere Leute blöd anmacht“ (deTenTen13).
Angesichts der Komplexität von Syntax, Semantik und Pragmatik dieses Idioms, die im Übrigen auch nicht im phraseologischen Wörterbuch Duden 11 erfasst wird – dort findet sich die gleiche Paraphrase wie im „großen Duden“ –, sollte wenigstens ein aussagekräftiger Beispielsatz angegeben werden. Dieser spiegelt in Duden 11 zwar grosso modo den semantischen Gehalt wider, aber die syntaktischen und pragmatischen constraints bleiben auf der Strecke: „Hier ist keiner im Saal, der sich in Sachen Umweltschutz nicht an die eigene Nase fassen müsste“.
Zweisprachige Wörterbücher tun sich verständlicherweise noch schwerer mit der Behandlung von Idiomen (vgl. Mellado-Blanco 2009). Dazu ein paar Schlaglichter:
(2) umg Fass dich doch an die eigene Nase! Mêle-toi de tes affaires!; occupe-toi de ce qui te regarde (Langenscheidt Online o.J.)
(3) fass dich an die eigene Nase! tu ne t'es pas regardé(e)! (PONS)
(4) sie sollte sich an die eigene Nase fassen! fam fig ¿quién le ha dado vela en este entierro? (PONS)
(5) sich an seine eigene Nase fassen fam, pensare ai/[farsi i] fatti propri; fass dich doch an deine eigene Nase!, fatti gli affari tuoi!, pensa per te! (Giacoma/Kolb 2014)
Wie soll ein Fremdsprachenlerner diese Äquivalente auf der Basis dieser Informationen jemals in einer Kommunikationssituation anwenden können? Besonders verwirrend ist dann in einem Fall die „Gegenprobe“: Unter vela ist zu finden:
(6) ¿a ti quién te ha dado vela en este entierro? fam wer hat dich hierherbestellt? (PONS)
Es ließen sich noch Hunderte solcher Fälle zitieren. Die Resultate wären ähnlich, wobei fairerweise gesagt werden muss, dass das Äquivalenzwörterbuch von Giacoma/Kolb 2014 noch am besten abschneidet, auch weil eine (digitale) Volltextsuche weitere Äquivalenzvorschläge unter mehreren Lemmata zu Tage fördert, man also eine größere Auswahl hat.
Es kann aber auch sein, dass Phraseme erst gar nicht aufgenommen werden, so scoprire l’acqua calda in PONS und Langenscheidt Online o.J.. Giacoma/Kolb 2014 verzeichnet:
(7) scoprire l’acqua calda (ciò che è scontato) das Rad neu erfinden
Natürlich bleibt damit offen, wie das Idiom sowohl im Italienischen wie auch im Deutschen syntaktisch und semantisch-pragmatisch verwendet werden soll und ob es Kongruenzen zwischen beiden Verwendungen gibt. So wird das Rad neu erfinden im Deutschen meist negiert oder mit negativem Skopus oder negativer Implikatur gebraucht: „Wir wollen an dieser Stelle also das Rad nicht neu erfinden“, „Warum sollte man das Rad neu erfinden?“, „Nicht jede Region muss das Rad neu erfinden“, „Wer jetzt denkt, Ingenieure hätten das Rad neu erfunden, der wird rasch eines besseren belehrt“ (deTenTen13). Und selbst wenn die Aussage syntaktisch affirmativ ist, wie in „Manchmal müssen wir hier das Rad neu erfinden“ (DeReKo-2019-I 2019) oder „Hier hab ich ja das Rad neu erfunden das hätte man sicher auch einfacher haben können“ (deTenTen13), so ist die Illokution doch meist Ironie. Wie überhaupt dem ganzen Phrasem eine kritische oder spöttische Konnotation eigen ist.
Phraseologische Wörter können aufgrund ihres spezialisierten Aufgabengebiets etwas näher ins Detail gehen:
(8) scoprire l’acqua calda (fam) Figurato: scoprire le cose più ovvie convinti di essere arrivati a grandi verità. Di solito scherzoso oppure spregiativo. (Quartu 2012)
(9) reinvent the wheel Wenn man über Personen sagt, they are reinventing the wheel, dann kritisiert man sie dafür, viel Zeit und Energie in Entwicklungsarbeit für etwas zu stecken, das es schon lange gibt. (Götz/Lorenz 2002)
(10) das Rad [nicht] neu/von Neuem erfinden10 etw., was bereits perfekt, optimal ist, [nicht] noch einmal erarbeiten, durchgehen, zu verbessern suchen. (DeReKo-2019-I 2019)
Man erkennt die Bemühungen der Spezialwörterbücher, die pragmatische Dimension ins Spiel zu bringen, wobei die Bedeutung auch einfach nur sein kann ‚eine herausragende Leistung erzielen, sich außerordentlich anstrengen‘, wie in (11) deutlich wird.
(11) […] beim Münchner Literaturfestival wird jedes Jahr eine andere Antwort auf die Frage nach Aufgabe und Ausrichtung dieses Literaturfestes gegeben werden, eine jeweils eigenwillige, subjektive Antwort, denn es soll jedes Mal ein anderer Autor, eine andere Autorin das "forum:autoren" kuratieren. Jahr um Jahr wird künftig in München zwar nicht das Rad neu erfunden, aber doch ein merklich anderer Schwerpunkt gesetzt werden, […]. (deTenTen13)
(12) NCSoft hat zwar nicht das Rad neu erfunden, aber es lässt sich auf jedenfall [sic!] feststellen das [sic!] sie es runder gemacht haben. (deTenTen13)
Traditionelle Wörterbücher, um es noch einmal zu sagen, können die Bereitstellung von Daten, die das verstehensrelevante Wissen erschließen helfen, nicht einmal im Ansatz in der Weise leisten, wie dies von Anfang an digital konzipierte lexikographische Werke bewerkstelligen können – seien es Wörterbuchformate oder Datenbanken.
3. Wegweisende Landmarken phraseologischer Trajektorien
Nun ist es nicht so, dass es keine guten phraseologischen Werke vor der Korpuslinguistik gab. Diese waren entweder kulturgeschichtlich orientiert (z. B. Grober-Glück 1974, Lurati 2001, Röhrich 2003), onomasiologisch gegliedert (etwa Hessky/Ettinger 1997, Bárdosi u.a. 2003, Schemann 2012) oder extensiv zweisprachig angelegt (vgl. die Wörterbücher von Schemann). Allerdings würde man in keinem der genannten Werke kommunikativ anwendbare „Gebrauchsanweisungen“ für Phraseme finden. Hierzu bedarf es wesentlich detaillierterer Angaben, die auf gründlichen Korpusstudien beruhen müssen.
Wie die Methode einer „korpusbasierten Erarbeitung der Bedeutung“ aussehen könnte, hat Ettinger 2009 auf der Grundlage der DWDS-Korpora Die Zeit (1946–2006) und Der Tagesspiegel (1996–2005) sowie Cosmas 2 (heute DeReKo-2019-I 2019) zum Idiom die Hosen anhaben gezeigt.11 Wenn man so möchte, ist diese Methodologie ein Vorläufer von GEPHRI 2018- – zweifelsohne eine Landmarke auf dem Weg zu einer Phraseologie, die Benutzer in die Lage versetzt, am muttersprachlichen Verkehrswert idiomatischer Verbindungen teilzuhaben.
Mit EPHRAS (vgl. Jesenšek 2009) sind dann auch erste digitale Gehversuche dokumentiert, hier zur Phraseologie des Deutschen, Slowenischen, Slowakischen und Ungarischen, die auch Korpusbelege enthalten.12 Einige Jahre zuvor wurde das auf den Daten des DWDS basierende Projekt „Kollokationen im Wörterbuch“13 (Fellbaum 2006) abgeschlossen, wobei unter Kollokationen hier (unüblicherweise) „Verb-Nomen-Verbindungen idiomatischen Charakters, wie es z. B. eins hinter die Löffel bekommen oder etwas auf die hohe Kante legen sind“, verstanden werden. Die Datenbank enthält etwas mehr als 800 solcher Verbindungen des Deutschen, wobei auch Äquivalente zum Englischen gegeben werden. Zu den Phrasemen werden DWDS-Belege gegeben. Der Schwerpunkt liegt auf der Zusammenstellung morphologischer, syntaktischer und semantischer Eigenschaften. Die Autoren des Projekts bezeichnen ihre Ergebnisse als „Grundlagenforschung“, ein Anspruch, der durchaus zutreffend ist.
4. Die neuen Wege
Mit einer etablierten Korpuslinguistik und dem neuen Boom der Phraseologie sind auch neue (kontrastiv-linguistische) Forschungsprojekte entstanden. Zum einen das Projekt FRASEPAL zum Deutschen und Spanischen (Fraseología contrastiva del alemán y el español) unter Beteiligung von Carmen Mellado Blanco (Santiago de Compostela) und Kathrin Steyer (IDS, Mannheim), welches bisher seinen Niederschlag im Wörterbuch Idiomatik Deutsch-Spanisch unter der Ägide von Hans Schemann (2013) gefunden hat, demnächst aber auch in Auszügen digital verfügbar sein soll. Zum anderen das interdisziplinäre Projekt PREPCON (Präposition-Nomen-Verbindungen im Kontext) zum Deutschen, Slowenischen und Spanischen, welches unter der Leitung von Kathrin Steyer, Carmen Mellado Blanco und Peter Ďurčo „lexikalisch geprägte Muster“ wie in Kürze, nach Belieben und vor Ort kontrastiv zu den beiden anderen Sprachen untersucht (vgl. Steyer 2018).
Mit GEPHRI geht dieser Weg weiter, dieses Mal zum Italienischen, aus kontrastiver Perspektive (Italienisch-Deutsch). Jesenšek 2009, 79f. sollte mit ihrer Prognose also Recht behalten: „Es ist zu erwarten, dass sich auch spezielle phraseologische Datenbanken in Richtung offener Forschungs- und Lernerressourcen im Bereich Phraseologie weiterentwickeln werden“.
5. Das lexikografische und digitale Potenzial von GEPHRI
Die Beschreibung der 600 verbalen Idiome (espressioni idiomatiche verbali), die nach korpusbasierten Frequenzanalysen und Geläufigkeitsuntersuchungen ermittelt wurden (Näheres s. Imperiale/Schafroth 2016, Anm. 12), erfolgt als Weiterentwicklung des als PhraseoFrame konzipierten lexikografischen Modells, das alle formalen und inhaltlichen Restriktionen und Besonderheiten eines Phrasems auf der Basis von Korpusanalysen erfassen soll, wie sie in Abb. 1 dargestellt sind.14
Wenn man so möchte, handelt es sich bei einem PhraseoFrame um eine lexikografische Struktur, die Phraseme im Sinne der frame-semantischen Strukturkonstituenten slots, fillers und default values beschreibt (vgl. Barsalou 1992, Ziem 2008). Mit den Leerstellen (slots) sind die relevanten Wissensaspekte, d.h. Beschreibungskategorien wie ‚Bedeutung‘, ‚grammatikalische‘ und ‚lexikalische Valenzen‘, ‚Charakteristika der internen und externen Syntax‘, ‚illokutive Funktion‘ gemeint. Die Standardwerte (default values) betreffen das zu erwartende Wissen, wie es sich vor allem aus Wörterbüchern extrahieren lässt, und die konkreten Füllwerte (fillers) entsprechen dem mittels Korpusanalysen gewonnenen Wissen. Die Darstellung dieser Strukturkonstituenten erfolgt in Form von ausformulierten Attribut-Werte-Zuordnungen (s. das Beispiel andare a monte in der GEPHRI-Datenbank).
Die Wissensaspekte, also die Beschreibungsparameter, entsprechen grosso modo den Ebenen Morphologie und Syntax (prosodische Aspekte spielen in der italienischen Phraseologie nur eine geringe Rolle), der Semantik, Pragmatik und Diskurssteuerung. Die Bereiche, in denen GEPHRI dezidiert neue Wege geht, sind die lexikalischen Valenzen, Kookkurrenzen und Kollokationen der „internen Syntax“ sowie Charakteristika der „externen Syntax“, darüber hinaus eine strikt korpusbasierte kontextsensitive Bedeutungsbeschreibung, eine subtile Differenzierung der illokutiven Funktionen sowie der Einbezug des situativen Rahmens, der registerspezifischen Besonderheiten und didaktischer Gebrauchshinweise. All diese Beschreibungskategorien gehen weit über das hinaus, was jemals von einer lexikografischen Phraseologie geleistet wurde und sind in ihrem auf Vollständigkeit bedachten Anspruch vor allem konstruktionsgrammatischen Ansätzen geschuldet. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die ganzheitliche lexikografische Modellierung verbaler Idiome, exemplifiziert am Italienischen, mit einer zusätzlichen kontrastiven Perspektive. Die konstruktionsbasierte Ausrichtung des Projekts ist bereits in Abschnitt 1 erörtert worden.
Von besonderer Relevanz sind die Parameter interne und externe Syntax, nicht zu verwechseln mit den Termini interne und externe Valenz, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll (vgl. Burger 2015, 98ff., Stumpf 2015, 2019, Schafroth/Imperiale 2019). Die in GEPHRI verwendeten Ausdrücke interne und externe Syntax bezeichnen hingegen lexikalisch-syntaktische Konstellationen, bei denen Kriterien der syntaktischen Beziehungen und des Skopus im Zentrum stehen.
Mit syntaktischen Beziehungen sind hier diejenigen Relationen gemeint, die zwischen den Aktanten eines Phrasems bestehen und diejenigen, die die Aktanten des Phrasems mit anderen Konstituenten eingehen können, seien diese rein grammatikalischer Natur (grammatikalische Valenzen) oder seien sie lexikalisch-syntaktisch geprägt (lexikalische Valenzen)15 (interne Syntax). Oder Beziehungen, die über das Phrasem hinausreichen (externe Syntax), also syntaktische Strukturen, in die ein Phrasem typischerweise oder häufig eingebettet ist oder die an das Phrasem angeschlossen werden:
(13) mandare a monte: QualcunoS manda a monte qualcosaDO (‚Jemand wirft etwas über den Haufen‘)
Das Subjekt qualcuno und das direkte Objekt qualcosa sind in der transitiven Verwendung dieses Idioms Bestandteile der internen Syntax.
Mit den syntaktischen Beziehungen in engem Zusammenhang steht das Kriterium des Skopus, welches den Modifikationsbereich des Phrasems betrifft. Ist dieser größer als das Phrasem selbst – dies ist etwa bei den meisten Temporal- und Lokaladverbien oder Modalverben, die typischerweise in Verbindung mit einem Phrasem auftreten, der Fall –, dann werden diese Elemente der externen Syntax zugerechnet. Ist der Skopus des Modifikators das Phrasem selbst bzw. eine Komponente des Phrasems, so ist dies eine Angelegenheit der internen Syntax: z. B. a) der Bevölkerung Sand in die Augen streuen, b) jmdm. {ordentlich, gehörig} die Leviten lesen oder c) das Haar in der Suppe {des anderen} suchen. Sowohl a) die lexikalische Füllung der Valenzstellen, hier des Subjekts, als auch b) typische und/oder häufige Kookkurrenzen oder c) Genitvattribute zu einem der Aktanten, werden als Bestandteile des Skopus der internen Syntax gesehen. Zur externen Syntax könnte etwa das Modalverb müssen in die Suppe auslöffeln müssen angeführt werden, da das Phrasem häufig Bestandteil der Struktur etwas tun müssen ist, oder rischiare di, welches syntaktisch klar außerhalb des Skopus von andare a monte ist und dieses Idiom häufig modifiziert:
(14) Del resto appare sempre più necessario il fatto che tra i serbo-bosniaci emerga una leadership più moderata, altrimenti tutto il processo di pace rischia di andare a monte (La Repubblica)
Oder gettare la spugna, welches oft in den Strukturrahmen von voler dire qualcosa oder significare qualcosa eingebettet ist:
(15) Ma farsi spaventare da questo fatto significherebbe gettare la spugna […] (CORIS)
Ein besonderes Augenmerk wird auf die Pragmatik der Phraseme gelegt, besonders auf ihr illokutives Potenzial, welches aus allen Sprecherperspektiven und unter Einbezug der häufigsten Kontexte ausführlich beschrieben wird (Phrasem andare/mandare a monte):
(16)
Illokutive Funktion
- darstellen, dass etwas verhindert wurde und/oder gescheitert ist, vgl.:
Il progetto era ormai pronto quando nel 1610 un fanatico cattolico, di nome François Ravaillac, invasato dalle teorie del legittimo tirannicidio, uccise Enrico IV, mandando a monte il disegno del re. (PAISÀ) - die Befürchtung äußern [und warnend darauf hinweisen], dass man dabei ist, etwas zunichtezumachen, das Mühe und Zeit gekostet hat, vgl.:
[...] Se non si toglierà il divieto, rischiamo di mandare a monte l’intera produzione: 40 mila quintali per un valore di almeno 8 miliardi. (La Repubblica) - darüber klagen, dass etwas [aufgrund von Hindernissen oder Schwierigkeiten] nicht zustande gekommen ist, vgl.:
stesso problema...a95000km. il [sic!] fatto e’ che credevo fosse solo un sensore e dato il kilometraggio ho chiesto di effettuare la sostituzione della cinta di distribuzione, poi la chiamata del meccanico con la notizia della centralina ventole danneggiata sensa [sic!] dirmi nemmeno la cifra....gli lasciero’ [sic!] circa mille euro e ferie andate a monte!!!!che bello!!!! [sic!] (itTenTen)
Die in GEPHRI verwendeten Korpora des Italienischen sind folgende (vgl. Crocco 2015): CORIS, PAISÀ, itTenTen 2016, LA REPUBBLICA (in früheren Fassungen auch WEBBIT). Die Korpusbelege werden entweder unmittelbar hinter dem Beschreibungsparameter zitiert (wie in 17) oder mit nummerierten Referenzen verlinkt (wie in 18). Auch hier soll auf das verbale Idiom andare/mandare a monte als Beispielfall zurückgegriffen werden:
(17)
Bedeutung
1 (in Bezug auf Pläne, politische Verhandlungen, Eheschließungen etc.) [bei der Durchführung] scheitern, misslingen oder von jdm. [aktiv] verhindert/vereitelt werden, vgl.:
Claude, anche lui innamorato di Esmeralda, decide di rapirla con l'aiuto di Quasimodo. I piani vanno a monte a causa dell'intervento del capitano Phoebus che salva Esmeralda. (PAISÀ)
Il colpo progettato su Camp David è stato mandato a monte dai passeggeri che reagirono ai pirati dell'aria. (itTenTen)
Si fidanzò due volte e per due volte sua madre, una donna fredda, dispotica, terribile, le mandò a monte il matrimonio. (itTenTen)
[…]
(18)
Situativer Rahmen
Bedeutung 1:
- Politik: diplomatische (Friedens-)Verhandlungen (vgl. PAISÀ 6, La Repubblica 9, 10, CORIS 12)
- Verhandlungen zwischen Unternehmen/Geschäftspartnern (vgl. La Repubblica 3, CORIS 4, itTenTen 18)
- Heiratspläne (vgl. PAISÀ 12, La Repubblica 12, itTenTen 1, 11), Ehen/Liebesbeziehungen (vgl. PAISÀ 9, CORIS 1, itTenTen 25)
- militärische Einsätze (vgl. PAISÀ 15)
[…]
Basis- und Detailmodus
Die Phrasembeschreibung ist auf der Ebene der Suchergebnisse benutzerseitig differenzierbar in einen Basis- und einen Detailmodus. Dies entspricht in etwa dem Unterschied zwischen einfachen und komplexen Informationsbedürfnissen. Zum Basiswissen gehören demnach die folgenden Wissensaspekte:16
- Nennform des Phrasems
- Formale Varianten
- Grammatikalische Valenzen
- Lexikalische Valenzen
- Kollokatoren der internen Syntax
- Bedeutung
- Situativer Rahmen
- Illokutive Funktion
- Register
- Gebrauchshinweise
- Video [Ausschnitt aus einem audiovisuellen Dokument, in dem das Phrasem verwendet wird]
- Äquivalente (laut zweisprachigen Wörterbüchern)
Zum Detailwissen gehören zusätzlich die folgenden Aspekte:
- (Weitere) Variationsmöglichkeiten
- Charakteristika der externen Syntax
- Kookkurrente Elemente der internen Syntax
- Satzform
- Metasprachliche Variation
- Wörtliche Lesart
- Besonderheiten (vor allem morphologischer, syntaktischer oder diskursfunktionaler Natur)
- Thesaurus Lexeme
- Thesaurus Phraseme
6. Theoretische und methodologische Probleme
Es versteht sich von selbst, dass nicht alle linguistischen Aspekte, die bei Phrasemen eine Rolle spielen können, in einem solchen Projekt operationalisierbar gemacht werden können. Hierzu gehören etwa die semantischen Rollen, die beispielsweise in FrameNet (https://framenet.icsi.berkeley.edu/fndrupal/) die entscheidenden Wissensaspekte konstitutiver und nicht-konstitutiver Art (Frame-Elemente) darstellen, etwa beim annoyance-Frame die semantischen Rollen EXPERIENCER, EXPRESSOR, STATE, STIMULUS und TOPIC. Dieses Beschreibungsprinzip mag bei Lexemen funktionieren, bei Phrasemen ist es jedoch nicht zuletzt aufgrund der oft inhärenten Bildhaftigkeit und der kontextsensitiven Bedeutungen weitaus schwieriger, die semantischen Rollen zu identifizieren. So ist es praktisch unmöglich, diese für ein Idiom wie venire a galla (konkret ‚an die Oberfläche kommen, auftauchen‘, figurativ ‚an den Tag kommen‘, z. B. Wahrheit) anzusetzen, da hier weder ein AGENS, PATIENS, BENEFIZIÄR, EXPERIENS noch ein ADRESSAT oder ORT (bestenfalls ein ZIEL) in Frage kommt.
Ein weiteres theoretisches Problem stellt die Zuordnung der Phraseme zu semantischen Feldern dar. Die Begriffe einer Sprache zu hierarchisieren, ist ohnehin ein schwieriges bis spekulatives Unterfangen, sie dann noch auf die Phraseologie anzuwenden, um so mehr. Dennoch ist es Bárdosi u.a. 2003 erstaunlich gut gelungen, die Idiome des Französischen diesbezüglich zu klassifizieren. GEPHRI übernimmt diese onomasiologische Klassifizierung mit ins Italienische übertragenen Begriffsbezeichnungen. Dass es dabei zu Überschneidungen semantischer Felder kommen kann, liegt in der Natur der Sache: So lässt sich sparare a zero (contro/su qualcuno/qualcosa) ‚jemanden/etwas heftigst kritisieren‘) je nach Sprecherperspektive und Kommunikationssituation durchaus mehreren semantischen Feldern, die konzeptionell letztlich stark den Frames ähneln, zuordnen: lite, disputa/disprezzo/antipatia, ostilità/insulto und rimprovero.
Schließlich scheint auch die diasystematische Verortung der Idiome ein kaum lösbares Problem zu sein. Für das Deutsche wird die große Mehrheit der verbalen Idiome in den Duden-Wörterbüchern pauschal als „umgangssprachlich“ apostrophiert, was mitunter seltsame Zuordnungen zur Folge hat, wie z. B. die diaphasische Gleichbehandlung von Idiomen wie seinen Kopf retten, den Kopf hinhalten müssen, sich an den Kopf greifen, etwas auf den Kopf stellen, jemandem über den Kopf wachsen, bis über den Kopf in Arbeit stecken, jemanden vor den Kopf stoßen, sich den Kopf zerbrechen – um allein im Artikel Kopf zu bleiben. All diese Phraseme tragen das Etikett umgangssprachlich, worunter eine „[z]wanglose Ausdrucksweise im sprachlichen Alltag, die man vor allem hört, bzw. dort liest, wo individuell Abweichungen von der Norm der Hochsprache üblich sind“ (Duden. Das Große Wörterbuch, Bd. 2: 14) verstanden wird. Diese Pauschalisierung hat natürlich in erster Linie damit zu tun, dass Wörterbücher im Allgemeinen nicht zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Kombination mit typischerweise phonischer oder graphischer Realisierung unterscheiden. So mag es zutreffen, dass die meisten der zitierten Kopf-Idiome typischerweise in einem phonisch realisierten Nähediskurs auftreten (vgl. Koch/Oesterreicher 2011).17 Das Problem, das Lexiko- und Phraseografie mit Markierungen haben, liegt zum einen in der Konzeption der Varietätendimension Diaphasik selbst18 (geht es um Stile oder um situationsspezifischen Sprachgebrauch?) und der Abgrenzung zur diamesischen Varietät (vgl. Krefeld 2010), zum anderen um die Frage, was genau Standard sein soll (???) und ob ein diasystematisch (vermeintlich) unmarkiertes Phrasem als neutral oder Standard zu bezeichnen wäre.
7. Conclusio
Die Qualität phraseologischer Sammlungen und Wörterbücher ist direkt proportional zur Quantität an Räumlichkeit, die konzeptionell zur Verfügung steht. Dies trifft auch auf die ein- und zweisprachige Lexikografie und deren Beschreibung von Phrasemen an sich zu. Printversionen und Retrodigitalisierungen ziehen hier an einem Strang, der jedoch recht kurz ist und kaum Hebelwirkung haben kann. Ohne die Leistung all dieser Werke an sich schmälern zu wollen, dürfte klar sein, dass das Ziel, all die Wissensaspekte, die nötig sind, um eine Redewendung, ein Sprichwort oder eine Routine- oder Gesprächsformel sprachlich adäquat und kommunikativ effizient aktiv zu verwenden, zumal wenn es um eine Lernersprache geht, in den genannten Formaten darzustellen, schlichtweg nicht erreicht werden kann. Dies ist nur durch "Neudigitalisierungen" (s. oben) möglich, die nicht nur das räumliche Problem nicht kennen, sondern darüber hinaus jederzeit korrigier- und erweiterbar sind, mehrere Medien gleichzeitig mit inkorporieren, ihre Daten strukturell hierarchisch gliedern, differenzierten Recherchemöglichkeiten zugänglich machen und auf andere Texte referenzieren können – um nur einige Vorteile der digitalen Verarbeitung und Darstellung sprachlicher Daten zu nennen.
Wie mit Forschungsdaten umgegangen werden sollte und im Idealfall (in der Romanistik) bereits umgegangen wird, haben Krefeld und Lücke (2017) dargestellt. Es versteht sich von selbst, dass die Gewährleistung von ‚Nachhaltigkeit‘ und ‚Nachnutzbarkeit‘ von Forschungsdaten auch für GEPHRI Ziel und Anspruch zugleich sein muss.
GEPHRI ist aber auch theoretisch fundiert und stützt sich auf Grundlagen, die in der Frame-Semantik, Konstruktionsgrammatik und kontrastiven Linguistik beheimatet sind. Der Sprachgebrauch ist dabei das Entscheidende. Keine Bedeutung, keine Illokution, Kookkurrenz und Valenz eines Phrasems soll unterschlagen werden, wenn sie von den Sprecherinnen und Sprechern einer Sprache, hier des Italienischen, in rekurrenter Weise verwendet werden.
*Ich danke Juliane Niedner vielmals für die wertvolle technische Unterstützung.
Bibliographie
- Barðdal 2008 = Barðdal, Jóhanna (2008): Productivity: Evidence from case and argument structure in Icelandic, vol. 8, John Benjamins Publishing.
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